Was steckt vom Urmenschen heute noch in uns?

Eine Erzählung zum Nachdenken

Was steckt vom Urmenschen heute noch in uns?

Fortsetzung der Erzählung „Plötzlich wurde es ganz leise“

Vor sehr langer Zeit dachte sich der Homo Sapiens aus, wieviel in seinem Urkern vom Urmenschen noch in ihm schlummert. Er fragte sich: „Wo finde ich ihn?“ Der heutige Mensch überlegt erst, dass es nicht gut ist, wenn er seinen Urkern in sich findet. Also entschied er sich, ihn solange an einem Ort zu verstecken, dass ihn niemand findet. Schnell aber näherten sich Krisen, Kriege, Krankheit und Verluste und er spürte, dass der Urkern in ihm nicht mehr sicher genug ist. Viele Menschen schlugen vor, ihn an der tiefsten Stelle seiner Seele zu verstecken. Aber auch dort bestand die Gefahr, dass der Mensch seinen Urkern viel zu früh finden würde. Ein weiser Mann äußerte nun einen Vorschlag. Er sagte: „Ich kann Euch sagen, was zu tun ist. Lasst uns daran glauben, dass der Mensch seinen Urkern dann entdecken wird und auch muss, wenn er reif genug ist, seinen Weg in sein Inneres zu gehen. Diese Weisheit wird er dann erkennen, wenn sein Kopf sein Herz berührt.“

Schon vor Jahrtausenden verständigten sich die Urmenschen mit Händen und Füßen. Voraus gingen Urgesänge und Tänze, die dazu dienten, Partner, Freunde und soziale Bindungen zu finden und zu stärken. Das gesprochene Wort erreichte den Menschen erst vor 1,8 Millionen Jahren. Die Kommunikationsfähigkeiten wild lebender Schimpansen entsprachen den gemeinsamen Vorfahren von Mensch und Affe, sie setzten Arme und Beine zur Verständigung ein. Eine volle Sprachfähigkeit erreichte der Mensch erst vor etwa 100000 Jahren, als sich Wanderungswellen von Afrika aus über die ganze Welt verbreiteten.

Wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, dann wissen wir nicht oder wollen es nicht wahrhaben, dass auch heute noch etwas vom Urmenschen in uns steckt. Es ist das Urvertrauen zu sich selbst und die Keimzelle für soziale Kompetenz. Man kann es auch „das Tor zur inneren Weisheit“ nennen. Es geht darum, auch in Krisenzeiten des Lebens nicht zu verzagen, sondern den Weg zu unseren inneren Ressourcen zu finden. Aber was tun wir? Wir rennen gestresst, getrieben, überfordert, schlecht gelaunt und manchmal wütend wie Rumpelstilzchen durch den Wald. Es geht aber auch anders, wenn wir den Schlüssel zu unserer inneren Kraft finden, sie aktiviert uns dazu, den größten Schatz in uns zu entdecken. Wie wir ihn hervorheben, dass will ich hier gerne erzählen.

Als junger Mensch geprägt durch destruktive Machteinwirkungen und große Ängste begab ich mich auf eine Studienreise nach Tansania. Die Begegnung mit einer anderen Kultur ebnete mir den Weg zu einer neuen Sichtweise und ließ mich meinen eigenen Urkern finden. Ich spreche hier von dem Lösen meiner inneren Blockaden und dem Entdecken versteckter Wünsche, Bedürfnisse und Träume, sowie dem offen Werden für Andere. Durch meine emotionale Öffnung habe ich die sanften Töne der Empathie kennengelernt. Von den Eingeborenen in der afrikanischen Savanne erlernte ich die Fähigkeit, meine eigenen Gefühle und die der anderen Menschen wahrzunehmen und konnte mich so in sie hineinversetzen. Ich spürte in mir die eigene Präsenz und entwickelt eine Sensibilität für mich selbst und meine Mitmenschen. Ich durfte erfahren, wie befreiende und heilsame Kräfte durch den freien Tanz und die Gespräche mit den Ureinwohnern entfesselt werden können, eine Erfahrung, die ich in meiner späteren Arbeit an viel Menschen in sozialen Einrichtungen und Unternehmen weitergeben durfte. Keine Kultur lebt das Miteinander so unmittelbar und körperbezogen wie die Naturvölker dieser Welt.

An dieser Stelle erinnere ich mich noch einmal an die Worte des Englischlehrers aus Kenia in meiner ersten Erzählung. Diese Menschen besitzen nicht viel, sind nicht so zivilisiert wie wir, jedoch ist Ihnen etwas zu eigen, das vielen Europäern grundlegend fehlt: Das Erkennen der Sinnlosigkeit von Macht und Status. Ebenso ist das Wahrnehmen ihrer eigenen Gefühle und des Mitgefühls der deutlich wirksamere Weg, um empathische und gewaltfreie Kommunikation im Alltag zu leben und das Miteinander nachhaltig und erfolgreich zu gestalten. Diese Ungezwungenheit könnte in unsere heutigen Zeit jeder Mensch finden, wenn er sich auf eine Entdeckungsreise zu sich selbst begeben würde.

Mir persönlich gab ein Kontinent Antwort und ich fand meine versteckten Schätze, die mir halfen, zu mir selbst zu finden. Der Mensch als Teil der Natur braucht gerade heute, in dieser krisengeprägten Zeit, Verbundenheit zu seinem Ursprung, um eine Sensibilität und Sinnlichkeit für sich selbst, andere Menschen und seine Umwelt zu entdecken. Nur so entstehen neue Wege, Herausforderungen und Innovation.

Gerne lade ich Sie ein, in meiner nächsten Erzählung ein Stück meines Weges mitzugehen, vielleicht entdecken Sie dabei ein paar Schätze für sich selbst!

Renate Scharrer